Unterwegs mit Jesus – Teil 1: Migdal
Manchmal wünsche ich mir so sehr, in der Zeit zurückreisen und einfach mit Jesus laufen zu können. Dabei sind meine Erwartungen gar nicht so groß: Ich muss nicht bei den „großen“ Momenten dabei sein, in denen er Pharisäer zurechtgewiesen, großen Wunder vollbracht hat oder für uns ans Kreuz gegangen ist. Wir sind in einer Kino-Welt aufgewachsen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das ein offizieller Begriff ist, aber immer mehr Leute werden sich des Problems, das aus unserer künstlichen Kultur erwächst, bewusst: Wir sind mit 1,5stündigen Filmen aufgewachsen, die uns zeigen, wie unser Leben aussehen soll – aber das Meiste, nein, sogar das Wichtigste wird ausgelassen. Der Alltag. Das, was das Leben wirklich ausmacht. Die Prozesse, die zum entscheidenen Punkt führen, werden in Filmen in der Regel mit Zeitraffer vorgespult. Genauso gehen wir auch oft mit der Bibel um, oder? In Predigten wollen wir von den großen Heldentaten hören, nicht vom Alltag. In Bibelfilmen wollen wir Action sehen, Wunder und das machtvolle Handeln Gottes, nicht der Weg dahin. Wenn wir für uns Bibel lesen, blättern wir vor zu unseren Lieblingsstellen und nehmen uns eher selten die Zeit, die restlichen zwanzigtausend Kapitel zu lesen. Wenn Du zurückreisen könntest in die Tage Jesu – was würdest Du erleben, was hören, was fühlen wollen?
Ich würde einfach nur neben ihm herlaufen wollen. Stundenlang ist Jesus durch die Schöpfung seines Vaters gewandert mit seinen Jüngern und den Menschen, die er liebte, an seiner Seite. Ich wünschte, ich könnte einen Tag neben ihm herlaufen, seinen Schritten lauschen, hören, wie das Fleisch gewordene Wort Gottes neben mir atmet, sehen, wie auch ihm Schweißtropfen in der israelischen Sommerhitze von der Stirn tropfen. Ich würde gerne die Momente miterleben, die nicht auf großer Bühne stattfanden, sondern in denen Jesus Zeit für das Kleine hatte, für Persönliches und kleine Scherze oder eine Pause am Straßenrand. Ich würde so gerne hören, wie er abends, wenn die Sterne aufgehen, von der Schöpfung spricht, als Gott jedem Himmelskörper seinen Namen gab, und wie er Gott für den neuen Morgen dankt, wenn die Sonne über den Ausläufern des Golan aufgeht.
Spätestens jetzt weißt Du vermutlich, wo ich gerade bin… Denn den Golan gibt es nur ein Mal in Israel ;-) Nachdem ich nun eine Woche in Jerusalem war, 2,5 Tage am Toten Meer und 2,5 Tage in Haifa bin ich nun in Galiläa, genauer gesagt am See Genezareth, und möchte hier ein bisschen in Jesu Fußspuren laufen. Manchmal ist das total einfach, denn vieles ist noch fast genauso wie vor 2000 Jahren: Ich meine natürlich nicht die Gesellschaft, die hier in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, sondern die Natur. Viele Berge und Felder gibt es noch, viele antike Städte sind gefunden worden oder nie verloren gegangen. Aber manchmal ist es auch gar nicht so klar, wie man das gerne hätte: Fand die Brotvermehrung wirklich in Tabgha statt? Und hielt Jesus die Bergpredigt wirklich auf dem Berg der Seligpreisungen?
Anfangen tut meine Reise eigentlich mitten drin in Jesu Leben und vor allem seinem Wirken als Messias, denn übernachten tue ich im antiken Magdala, oder Migdal, wie es damals hieß. Und an diesem Ort möchte ich mit Dir beginnen. Migdal ist aus mehrere Gründen mein Lieblingsort: 1. Wegen seiner Bedeutung für Theologie und Forschung, 2. wegen einer besonderen Begegnung und 3. wegen seiner Kirche. Fangen wir also an…
Wir schreiben das Jahr 2009, als ein Wumms durch die Welt der Theologie und Archäologie geht – wie so oft in Israel ausgelöst durch eine Baustelle: Auf der leeren Fläche neben dem beliebten Einkaufszentrum des modernen Migdal (alle wussten, dass hier eigentlich irgendwo der antike Vorläufer, als Magdala bekannt, gewesen sein müsste – aber wo?) sollte ein Erholungszentrum entstehen, eine Art Filiale des Notré Dame Centers in Jerusalem. Wie das Sprichwort so schön sagt: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Und so kam die Baustelle fast sofort wieder zum Erliegen. Denn niemand hatte geahnt, dass gerade hier die antike Stadt Migdal (Aramäisch Magdala) lag. Wie immer in solchen Fällen übernahm die Israelische Altertumsbehörde die Führung und legte die antike Stadt frei. Mehr zu den Funden und dem Schicksal der antiken Stadt sowie der Kirche Duc in Altum, die heute dort steht, kannst Du HIER in meinem älteren Artikel für das Institut für Israelogie nachlesen.
Mittlerweile ist das Erholungszentrum tatsächlich entstanden: Zehn Jahre nach Beginn des Baus wurde das Hotel Magdala eingeweiht. Ich konnte noch eins der Zimmer ergattern und darf nun jeden Tag durch den archäologischen Park, die verschiedenen Alleen und die Kirche wandern und am See Genezareth entspannen. Klingt wie ein Traum – und fühlt sich auch so an ;-)
Doch warum ist dieser Ort nun für Theologie und Geschichte so bedeutend? Es handelt sich nicht einfach um irgendeine Ausgrabungsstätte, wie es sie eben viele auf der Welt gibt. Nein, hier handelt es sich um einen Ort, dessen Existenz lange von Bibelkritikern angezweifelt wurde. Dass Magdala (und daneben noch andere Orte, die in den Evangelien erwähnt werden) bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefunden worden war, wurde von manchen Forschern als Indiz dafür genommen, dass die Bibel eben kein historisch akkurates Zeugnis ist, sondern lange nachträglich mit unabsichtlichen Fehlern oder bewussten Ungenauigkeiten zusammengefügt wurde. Maria von Magdala wäre damit mehr oder weniger fiktiv ebenso wie die Aussage, dass Jesus durch die Synagogen in ganz Galiläa gezogen ist (bspw. Mt 4,23; wenn es den Ort nicht gibt, kann es da auch keine Synagoge geben). Teilweise wurde auch angezweifelt, dass es zur Zeit Jesu überhaupt schon Synagogen gab, und wenn, dann hätten diese Vorläufermodelle noch herzlich wenig mit dem Tempel in Jerusalem zu tun gehabt, wie wir immer dachten.
Und nun die große Preisfrage: Was wurde 2009 gefunden? Nicht nur die antike Stadt Migdal, die übrigens wunderbar mit der Beschreibung von Flavius Josephus von Migdal als berühmter Fischereistadt der antiken Handelsroute zusammenpasst (auch dazu findest Du mehr in meinem anderen Artikel) – sondern auch eine Synagoge. Eine große, ausgebaute Synagoge, die viel Raum für Menschen bot. Dabei wurde der Platz gefunden, wo vermutlich die Bimah mit der Torahrolle stand und am Sabbat ein Mann nach vorne ging, um daraus vorzulesen. Und wo, wenn unsere Aussage aus den Evangelien stimmt, Jesus selbst stand und lehrte. Auf dem sog. Magdala-Stein, in dem allgemein ein Teil der Bimah vermutet wird, ist eine erstaunlich naturgetreue Nachbildung der großen Menorah (siehe u.a. 2Mo 25,31ff.; der Siebenarmige Leuchter hat im Judentum bis heute eine riesige Bedeutung, weil von Gott vorgeschrieben war, dass er im Tempel stand; so war er im Ersten und Zweiten Tempel zu finden, also auch zur Zeit Jesu), was die Orientierung des Lebens in der örtlichen Synagogen am großen Tempel in Jerusalem belegt sowie die in der Bibel dargestellte Bedeutung der Menorah. Auf dem Gelände wurden auch Mikwen gefunden. Die Existenz und der regelmäßige Gebrauch der rituellen Reinheitsbäder, die ebf. bis heute im Judentum wichtig sind, zur Zeit von Jesus wurden ebenfalls lange angezweifelt. Doch dieser Fund unterstützt das, was die Ausgrabung Masadas Jahre zuvor schon zeigte: Die Gebote des Judentums sind nicht erst nach der Zerstörung des Zweiten Tempels aufgekommen, sondern prägten schon viel früher, wie die Bibel angibt, das alltägliche Leben des jüdischen Volkes.
Nach meiner kleinen Ausschweifung zu historisch-theologischen Bedeutung nun zur zweiten: Der Fund dieses Ortes gibt einer meiner Lieblingspersonen aus den Evangelien eine Geschichte. Eine Vergangenheit. Ein Zuhause. Es war wohl dieser Ort, in dem Maria von Magdala ein furchtbar trostloses Leben führte. Von sieben Dämonen war sie besessen, sagen uns Mk 16,9 und Lk 8,2. Wie das ausgesehen haben mag, möchte ich mir gar nicht vorstellen, und was für Auswirkungen das für sie als Mensch hatte, noch weniger. War es vielleicht genau in dieser Synagoge, die vor so kurzer Zeit erst gefunden wurde, wo Jesus sie gesehen hat? Oder ist er durch die Straßen gezogen, wie er es so oft in den Städten am See tat, um unter den Menschen zu sein, die er liebte, um zu heilen und in ein neues Leben hineinzurufen? War es vielleicht genau hier, wo er Marias Namen rief und sie befreite von ihrer Last, ihr ihr altes Schicksal, aufgrund dessen sie von Menschen verachtet war und als verloren galt, abstreifte und ein neues gab?
Maria wurde zu einer seiner bedeutendsten Jüngerinnen und wahrscheinlich sogar seiner berühmtesten. Denn sie war es, die nie von seiner Seite wich. Als eine der wenigen blieb sie am Kreuz. Als eine der wenigen ging sie Sonntagmorgen vor Sonnenaufgang zum Grab. Als Erste sah sie den auferstandenen Messias.
Marias Geschichte ist eine der inspirierendsten, möchte ich behaupten. Denn diese Frau zeigt uns, dass unsere Vergangenheit uns nicht festhalten und definieren muss. Dass wir manchmal nicht auf das hören dürfen, was Menschen sagen, oder auf die Stimme des Feindes, wenn er uns unsere Vergangenheit wieder vorhalten möchte. Maria von Migdal zeigt uns, dass ein Neuanfang in Jesus wirklich ein neuer Anfang ist – und dass mit Ihm an unserer Seite alles möglich ist.
Und dann noch zum dritten Grund: Die Kirche Duc in Altum ist tatsächlich meine liebste Kirche in ganz Israel (zumindest zur Zeit ;-)). Für eine genauere Beschreibung kannst Du gerne in meinem schon erwähnten Artikel nachschauen. Hier nur ein paar Basics: Das Atrium ist mit seinen acht Säulen acht Frauen aus der Bibel gewidmet. Allein das ist für mich als Frau, Christin und Theologin schon sehr bewegend. Vom Atrium ausgehend gibt es vier kleine Kapellen, in denen auf je wunderbare Art und Weise Szenen aus den Evangelien dargestellt sind. Der Mittelpunkt des Hauptgottesdienstraums ist der Altar, der als Fischerboot gebaut ist – er steht vor einer riesigen Glasfront, von der aus man direkt auf den See schauen kann.
Aber der große Schatz ist im Keller: Geht man eine Treppe hinunter, findet man nicht nur den antiken Marktplatz aus der Zeit Jesu, sondern auch ein einzigartiges Gemälde: Es fängt in künstlerischer Darstellung den Moment ein, in dem die blutflüssige Frau geheilt wird, als sie die Fransen von Jesu Gewand berührt, wie sie jeder jüdische Mann damals getragen haben dürfte. Zwar ist das Wunder vermutlich in Kapernaum geschehen. Aber das Bild passt wunderbar in diese Kirche, in der Gottes Liebe zu Frauen, die so lang in der Kirchengeschichte geleugnet wurde, einen besonderen Platz findet.
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