Von der Bedeutung des Christ-Seins – Teil 2
Willkommen zurück! Ich freu mich, dass den zweiten Schritt auf dieser Reise mit mir unternimmst – auf einer Reise zurück zu den Wurzeln unseres Glaubens. Ich möchte direkt an den ersten Teil anknüpfen und die Gedanken, was es bedeutet, Christ zu sein, noch weiter vertiefen.
Lass uns zurückgehen zu dem Vers, in dem die Bezeichnung Christ das erste Mal in der Apostelgeschichte auftaucht, denn er sagt uns noch etwas anderes ganz Wichtiges: In Antiochia wurden die Jünger zuerst Christen genannt (siehe Apg 11,26). Die Gläubigen haben sich also ganz offensichtlich selbst zuerst nicht als Christen bezeichnet, sondern sich als Jünger gesehen und und auch so genannt, wie Lukas uns als Autor verrät. „Zu Christus Gehörender/Christ“ ist die Fremdbezeichnung, „Jünger“ ist die Selbstbezeichnung. Dabei müssen wir beachten, dass hier nicht nur von den Aposteln die Rede ist, also den engsten Freunden und ersten Begleitern Jesu. In Apg 11 lesen wir davon, dass Paulus und Barnabas ein ganzes Jahr in Antiochien waren und sich immer mehr Menschen, darunter zahlreiche Nichtjuden zu Jesus bekehrten. Diese ganzen neuen Gläubigen sind Jesus leibhaftig nie begegnet und dennoch fallen sie unter den Begriff der Jünger. Ein Jünger ist also nicht nur jemand, der sich zu Jesu irdischem Wirken in seiner direkten Nähe bekehrt hat – sondern jeder, der an ihn als den Christus glaubt. Egal, wann. Egal, wo. Dann… sind auch wir Jünger – wenn Du an Jesus Christus glaubst, bist Du ein Jünger Jesu.
Was genau ist ein Jünger? Lass uns kurz auf das griechische Wort schauen, um zu entdecken, was die Bezeichnung Jünger über das Selbstverständnis der ersten Gläubigen aussagt und auch für uns bedeuten kann. Das griechische Wort, das wir als Jünger übersetzen, meint in seiner Grundform eigentlich ein Lernen, Erfahren, Kennenlernen/Erkennen – und mit diesen drei Bedeutungen liegen uns drei wichtige Aspekte vor, die das Christsein im neutestamentlichen Verständnis ausmachen.
Zum einen sind Jünger Lernende: Jesus ist ihr Lehrer. Das sehen wir zum Beispiel daran, dass die Jünger Jesus immer wieder mit Rabbi (Lehrer) ansprechen, dass Maria zu seinen Füßen sitzt, um ihm zuzuhören (eine ganz typische Schüler-Pose in der Zeit Jesu), oder dass die Jünger auch immer wieder nachfragen und Jesus ihnen vieles ganz ausführlich erklärt wie etwa die Bedeutung von Gleichnissen. Ein solches Verhältnis war zur Zeit Jesu durchaus üblich. Es gab zahlreiche Lehrer (Rabbis) und das Leben der Schüler bestand darin, ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen, um zu lernen – und zwar alles, was sie zu greifen bekamen. Das Unübliche an Jesus ist eher, wer er ist: Er ist eben kein Schriftgelehrter, er stammt aus keiner reichen Familie, er ist sozial nicht besonders hochgestellt, er ist auch bis dahin kein bekannter Prophet oder ähnliches gewesen – er ist der Sohn eines Zimmermanns, der in den Augen des Volkes unter eher ungeklärten Umständen zur Welt gekommen ist, scheinbar ein normaler Mann aus einer normalen Großfamilie. Und dennoch hat er eine Art zu lehren wie kein anderer vor oder nach ihm. Dieses scheinbare Paradoxon begegnet uns am eindrücklichsten in Nazareth (Jesu Heimatstadt), wo Jesus recht zu Beginn seines Wirkens in der Synagoge eine Prophetie aus Jesaja vorliest und den Zuhörenden sagt, dass sich diese nun in ihm erfüllt habe (etwa Lk 4,14ff.). Während Jesus redet, bemerkt jeder die Weisheit und die Tiefe, die in seinen Worten liegen, aber sie können es nicht mit seinem sozialen Hintergrund zusammenbringen (Mk 6,2ff.). Diesem bemerkenswerten und ungewöhnlichen Rabbi folgen seine Jünger also nach, sie wollen die Worte dieses Mannes verstehen, den einer von ihnen später selbst als das Wort Gottes bezeichnen wird (der Apostel Johannes wird als Evangelist zu einem der wichtigsten Schriftsteller der Bewegung und benutzt die Bezeichnung für Jesus in seinem Prolog in Joh 1,1). Sie wollen seine Reden von Gott und dessen Königreich nachvollziehen und seine Auslegung der über Jahrtausende tradierten Torah verstehen.
Daneben sind Jünger Erfahrende: Sie lernen Jesu Lehre nicht nur theoretisch, sondern erfahren sie leibhaftig. Der Duden definiert „erfahren“ als „an sich selbst erleben, zu spüren bekommen“1https://www.duden.de/rechtschreibung/erfahren_feststellen_erleben, Stand 20. März 2023.. Der große Unterschied bzw. die wichtige Ergänzung zum Lernen ist also, dass die Dimension vom Hörensagen überschritten wird. Lernen kann ich etwas, ohne mit meinem eigenen Leben involviert zu sein. Lernen könnte ich theoretisch auch aus der Ferne. Aber wenn ich etwas am eigenen Leib erfahre, wenn es Auswirkungen auf mein Leben hat – dann gehen die Konsequenzen wesentlich tiefer. Ob ich Bilder von einem schönen Strand im Internet sehe oder selbst dorthin fahre und den Wind auf meiner Haut spüre und die Wellen an meinen Füßen; ob ich von einer leckeren Pizza in einem neuen Restaurant höre oder selbst dorthin gehe und es schmecke; ob ich mit jemandem, den ich liebe, telefoniere oder ihm in die Augen sehen und ihn in die Arme schließen kann… das direkte Erfahren, das Erleben, das Spüren mit allen Sinnen vertieft die Erfahrung, auch in Sachen Jüngerschaft. Es macht Jüngerschaft Jesu zu dem, was sie wirklich sein soll.
Genau dazu, zu dieser persönlichen Erfahrung, fordert Jesu die ersten neugierigen Jünger von Johannes dem Täufer auf, als sie ihm nach der Aufforderung des Täufers schüchtern hinterherlaufen (Joh 1,39): Sie haben ihn aus der Ferne gesehen, Johannes der Täufer hat ihnen von ihm erzählt. Und nun gehen sie selbst mit ihm – weil er sie einlädt. Ist es nicht wunderbar, einen Messias zu haben, der einlädt, ihm zu folgen? Das denken die beiden (der eine ist Andreas, der andere bleibt unbenannt, ist aber vermutlich Johannes selbst) auch und bald gehen sie zu ihren Freunden und sprechen die gleiche Einladung aus, was wie ein Dominoeffekt wird: Die beiden holen Petrus (und vielleicht sogar Jakobus?), Philippus holt Nathanael: „Komm und sieh!“ (Joh 1,46, ELB) Die Jüngerschaft wächst durch die persönliche Einladung, etwas selbst zu erleben. Und jeden Tag erleben sie die Worte Jesu leibhaftig: in der engen Gemeinschaft mit ihm und in Gesprächen, durch Heilungen, Wunder und Zeichen, die Jesus tut, durch ihre eigenen Fehler und Jesu Korrektur.
Aber selbst dabei bleibt Jüngerschaft nicht stehen. Denn das Wort an sich mit seinen Bedeutungen, aber auch die Berichte der Evangelien zeigen uns, dass das Lernen und Erfahren zu einem dritten Punkt führt: zum Erkennen.
Und Jünger sind auch Erkennende. Es ist eindeutig ein Prozess, den die Jünger mit Jesus durchlaufen – Erkenntnis kommt durch Lernen und Erfahrung, und das braucht manchmal Zeit. Die Jünger hören Jesus also zu und verstehen durch ihn die Tora, sie kommen Gott näher und beginnen, ihren Schöpfer ganz persönlich besser und besser kennenzulernen. Und sie lernen Jesus besser kennen durch all das, was sie mit ihm erleben. Bis zu dem Punkt, an dem sie erkennen, wer er ist. Doch auch das passiert graduell: Sie sehen ihn nicht nur mit Vollmacht lehren, sondern auch Zeichen und Wunder tun, die kein gewöhnlicher Mensch tun kann.
Als die Jünger schon einige Zeit mit Jesus unterwegs sind, finden sie sich eines Tages mit ihm mitten in einem Sturm auf dem See Genezareth wieder. Beinahe gehen sie unter, aber Jesus stillt den Sturm mit einem einzigen Befehl und zeigt damit eine Dimension seiner Autorität und Macht, die vorher noch verborgen war. Und wie reagieren sie? Erschrocken aber erstaunten sie und sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass er auch den Winden und dem Wasser gebietet und sie ihm gehorchen? (Lk 8,25, ELB) Sie beginnen, etwas zu erkennen, was noch ihren Horizont übersteigt, und Fragen bilden sich in ihrem Kopf. Ja, fragen ist nicht nur in Ordnung, sondern auch gut. Denn sie bringen uns weiter, sie bringen uns dazu, offen zu sein und nach Antworten zu suchen. Als die Jünger das nächste Mal in einer ähnlichen Situation auf dem See sind und Petrus dieses Mal sogar mit Jesus ein paar Schritte auf dem Wasser geht, aber trotzdem von ihm gerettet werden muss, da bildet sich die erste zaghafte Antwort auf die Frage der Jünger: Die aber in dem Boot waren, warfen sich vor ihm nieder und sprachen: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn! (Mt 14,33, ELB)
Für uns Menschen kann es manchmal überwältigend sein zu versuchen, wirklich zu erfassen, wer Gott und wer der Messias in seinem Wesen ist. Denn als Menschen sind wir begrenzt und Gott in seiner Fülle sprengt ganz eindeutig die Grenzen unserer gefallenen Welt. Aber bei den Jüngern setzt dieser Prozess sein. Und als Jesus später in einer ganz normalen und unaufgeregten Situation abends die Jünger fragt, was sie glauben, wer er sei (dieses Mal also ohne Zeichen und Wunder), da antwortet Petrus überzeugt und ohne Zweifel: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. (Mt 16,16, ELB) Das Miteinander mit Jesus, die intensive Jüngerschaft führt also zur Gotteserkenntnis – und zur Erkenntnis, wer Jesus ist. Und auch wenn das noch auf die Probe gestellt werden wird (Petrus wird Jesus drei Mal verleugnen und auch die anderen kommen durch die Gefangennahme und Kreuzigung Jesu ordentlich ins Wanken), wächst die Erkenntnis weiter und durchdringt ihr aller Leben – und das Leben der Nachfolger, die noch kommen.
Eins haben wir wohl in dieser kleinen Erkundeungsreise bemerkt: Christsein, Jüngersein, ist etwas sehr Intensives, eine Entscheidung für´s Leben. Ein Jünger Jesu zu sein, heißt, das Leben mit dem Gott zu teilen, der es einem geschenkt hat, bereit zu sein, zu begleiten, zu lernen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken, zu erkennen – sprich: das ganze Leben von Jesus beeinflussen zu lassen. Und das dann weiterzugeben und andere einzuladen.
Ich möchte Dich nun einladen, genau das in den nächsten Wochen noch weiter zu erkunden: Was es heißt, ein Jünger Jesu zu sein und zu Christus zu gehören? Wie gehst Du mit diesen beiden Begriffen Jünger und Christ um? War Dir diese biblische Dimension schon vorher ganz bewusst und beanspruchst Du auch diese Bedeutungen, wenn Du Dich selbst als Christ vorstellst? Oder ist es irgendwie neu für Dich, ungewöhnlich vielleicht? Was wecken diese Begriffe in Dir – und wie können wir Christsein und Jüngerschaft erfüllt leben?
Um das tiefer zu erkunden, möchte ich mich nun mit Dir mit einigen der Männer beschäftigen, die drei Jahre lang auf engstem Raum mit Jesus zusammengelebt haben, die alles stehen und liegen gelassen haben, um diesem ungewöhnlichen Rabbi nachzufolgen – und die dennoch so nahbar, so fehlerhaft, so menschlich waren. Ich denke, wir können von den Zwölf sehr viel lernen, nicht nur über sie, sondern auch über uns und sogar über Jesus selbst. Lass uns also gemeinsam diese kleine Reise antreten, in der wir die zwölf Jünger, die Apostel auf ihrem Weg mit Jesus begleiten.
- 1https://www.duden.de/rechtschreibung/erfahren_feststellen_erleben, Stand 20. März 2023.