Gamla – das Masada der Golanhöhen
Wieder durchströmt der Wagemut meine Venen und lässt mein Herz höher schlagen – denn gerade hat mir der Mitarbeiter des Nature Reserves, das ich heute besuche, davon abgeraten, den Weg anzugehen, wegen dem ich hier bin. Die antike Stadt Gamla ist es, die mich lockt, doch hatte ich nicht gedacht, dass der Weg so weit und beschwerlich wäre. Erst stapfe ich zweifelnd los, ob ich es wirklich wagen soll – aber dann sehe ich ihn vor mir: den Berg, auf dem die Stadt liegt, die eine so wichtige Rolle im Jüdischen Krieg gegen Rom gespielt hat. Nun kann ich nicht mehr anders, setze meinen Sonnenhut auf, trete aus dem Schatten des Aussichtspunktes hinaus in die Mittagshitze und beginne den steilen Abstieg.
Eigentlich bin ich relativ zeitig losgefahren an diesem Morgen, doch habe ich einen Zwischenstopp gemacht und Peter´s Primacy das erste Mal in meinem Leben besucht. Nun führt mich und mein kleines, etwas und schon deutlich zugerichtetes (keine Angst, nicht von mir) Leihauto unser Weg in die Golanhöhen, die im Osten des Kinneret sanft und doch massiv ansteigen. Immer höher führt mich die Straße und bald wird der See hinter mir immer kleiner. Ich fahre vorbei an immer noch durch die Kriege mit Syrien vermintem Gelände und Übungsplätzen des IDF, doch dann bin ich endlich da und fahre durch das geöffnete Tor des Gamla Nature Reserves.
Erstaunlich weit führt mich die Straße aber danach noch weiter zur Station des Reserves – die antike jüdische Stadt muss also sehr weit draußen an den Klippen liegen. Ein Bild habe ich nicht vor Augen, da dies eine spontane Entscheidung war und ich mich nicht vorbereitet habe. Ich parke mein Auto und renne prompt (fast das erste Mal, seit ich in Israel bin) in deutsche Touristen, die gerade von einem netten Mitarbeiter eine Einführung bekommen haben. Der schickt das Ehepaar nun los und damit bin ich an der Reihe. Er erklärt mir die verschiedenen Sehenswürdigkeiten dieses Parks: der Gamla-Wasserfall und der Bazelet-Wasserfall, die Geier, die hier besonders häufig nisten und über der Schlucht des Wadi zu beobachten sind – und natürlich Gamla selbst. Ich erzähle ihm, dass ich deswegen hier sei. Er schaut mich skeptisch an und meint, dass ich dafür eigentlich viel früher hätte kommen müssen. Denn jetzt um 10 Uhr wird es schon sehr heiß in den Höhen des Golan. Und anders als in anderen Naturparks liegt die Ausgrabungsstätte nicht direkt „vor der Haustür“… sondern man muss einen steilen Pfad hinab zu einem separaten Felsen gehen – fast wie bei Masada, nur nicht ganz so krass. 2 Stunden soll der Rundweg dauern. Nun verstehe ich, warum Gamla als das „Masada der Golanhöhen“ bezeichnet wird… nicht nur wegen seiner Geschichte, sondern auch wegen seiner Lage. Obwohl er mir gerade davon abrät, den Weg anzutreten, heizt er mein Interesse an dem Ort weiter an: Er selbst ist Jude, aber glaubt an Jesus als einem der wichtigsten Propheten. Seine Augen leuchten, als er mir erzählt, dass er der festen Meinung ist, dass Jesus auch in der Synagoge Gamlas war, die gefunden wurde (übrigens einer der bedeutendsten Funde in der Archäologie). Auch wenn uns das nicht in der Bibel erzählt wird, würde es eigentlich Sinn machen: Gamla wurde, das wissen wir sicher, um 538 v.Chr. von den jüdischen Rückkehrern aus Babylon erbaut und 87 v.Chr. vom Hasmonäerkönig Alexander Jannaios neu belebt. Es entwickelte sich zu einem geistlichen Zentrum des Nordosten Israels und wurde die Hauptstadt der Region – weshalb Gamla im Jüdischen Krieg auch so eine bedeutende Rolle spielte.
Nach einem super spannenden Gespräch ziehe ich dann los und ich merke bald: Die Sonne knallt um diese Zeit doch schon ganz ordentlich hier oben. Schwitzend laufe ich vorbei an den Ruinen eines byzantinischen Dorfes und den Resten einer Kirche und einer Ölpresse. Bald stehe ich am Aussichtspunkt für den Gamla-Wasserfall. Hören tut man ihn schon von Weitem, denn obwohl er gar nicht so groß ist, hallen seine Wassermassen in der tiefen Schlucht des Wadi laut wieder. Genial ist der Ausblick auf jeden Fall. Der Mitarbeiter und seine Kollegen haben mir den wesentlich leichteren Weg zum diesem Wasserfall hin empfohlen – ich müsste mich also rechts halten. Doch unaufhaltsam zieht es mich nach links und ich folge den Schildern Richtung Gamla. Zuerst lande ich bei dem Aussichtspunkt, von dem aus man die Geier beobachten kann, wie der Mitarbeiter mir angekündigt hatte. Und tatsächlich höre ich einige und kurz danach sehe ich auch, wie sie hoch oben über der Schlucht fliegen. Aber so schön der Anblick auch ist, zieht es mich wieder weiter und ich lande bald am nächsten Aussichtspunkt und sehe sie: die antike Stadt Gamla. Ich starre fasziniert und etwas geschockt über Kluft hinweg, die mich von meinem Ziel trennt. Denn tatsächlich: Gamla liegt nicht direkt vor mir, sondern ich müsste einen steilen, steinigen Weg in der prallen, israelischen Vormittagssonne bestreiten (und vor allem danach wieder raufklettern), um dann den Felsen Gamlas selbst zu besteigen. Da ich ein paar Mal während meines Urlaubs schon zu lange in der Sonne war, weiß ich, dass der Mitarbeiter eigentlich recht hat… Und doch steigt die Abenteuerlust in mir auf, als ich an Masada und Arbel zurückdenke. Das habe ich schließlich auch geschafft, als es viel zu heiß war. Ich ziehe meinen Hut also etwas tiefer ins Gesicht, verstärke den Griff um meine Kamera und beginne den Abstieg.
Die Beschreibung des Mitarbeiters enttäuscht mich nicht. Der Weg ist beschwerlich. Aber ich werde belohnt durch viele Zitate aus dem Werk von Flavius Josephus über das Schicksal Gamlas, die den Weg säumen. Mutig hüpfe ich von Stein zu Stein (wobei es wohl etwas schwerfälliger ausgesehen haben dürfte), klettere noch mutiger vorbei an israelischen Hornissen und nähere mich meinem Ziel unaufhaltsam. Mein Stolz wird nur ein kleines bisschen angeknabbert, als ich plötzlich das deutsche Ehepaar, das doch um einiges älter ist als ich, schon weit vor mir in den Ruinen Gamlas herumspazieren sehe. Ich blende den Gedanken, dass der Weg vielleicht doch nicht so krass ist, wie mir gesagt wurde, schnell aus und kraksel weiter den Berg hinab.
Endlich komme ich unten an. Meine Abenteuerlust wird nun aber von Trauer abgelöst, als ich die zerstörten Stadtmauern sehe. Der Mitarbeiter hat mir noch erzählt, dass die Stadt ursprünglich keine Mauern hatte: Wegen ihrer Lage galt sie als kaum einzunehmen und brauchte deshalb keine. Erst, als die Stadt unter dem Kommando von Josephus (wenn Du Dich erinnerst: Er war eigentlich ein bedeutender Kommandeur der jüdischen Rebellen) selbst kriegsbereit gemacht wurde, weil die Römer unaufhaltsam vorrückten, wurde die Stadtmauer gezogen.
Zwei riesige Löcher haben die Römer in die Mauer geschlagen mithilfe ihrer Rammböcke. Eines davon führte die Soldaten in ein Wohnhaus, dessen Hauswand direkt an die neue Stadtmauer grenzte – von den Menschen hat wohl niemand lang überlebt. Denn es hat die Römer einen ganzen Monat gekostet: An die 9000 Juden waren in der Stadt, wenn wir den Angaben von Josephus glauben können, als die Römer an den Grenzen ankamen. Doch es dauerte Wochen, bis sie die Mauern durchbrechen konnten, weil die Rebellen so erbitterten Widerstand leisteten, die Römer in Fallen lockten und ihnen so massivste Schäden zufügten. Viele Römer verloren im Kampf um Gamla ihr Leben. So kannten diese kein Halten mehr, als sie die Mauern durchbrachen, und massakrierten 4000 Juden.
Doch was geschah mit den anderen 5000? Ihr Schicksal ist es, das mich den vorgeschriebenen Pfad durch die Ruinen der Stadt verlassen lässt. Denn ich sehe einen Trampelpfad, der Richtung Klippen am Westhang führt. Ich folge ihm, klettere immer weiter hinauf, rechts geht es jenseits des Kamms steil hinab. Und dann stehe ich auf den Klippen und es geht nicht mehr weiter. Josephus sagt uns, dass sich die restlichen 5000 Juden, die nicht von den Römern ermordet wurden, von diesen Klippen gestürzt haben. Sie wollten dem Massaker, einer Schändung oder Versklavung entgehen und wählten so den Freitod. Junge Kämpfer, alte Menschen, Frauen und Kinder sollen hier in den Tod gestürzt sein, als der Zorn Roms hinter ihnen ihre Stadt niedermachte. In diesem Moment kommen mir die Tränen, denn der Ausblick auf diesen Klippen ist wunderschön: Man sieht bis zum See Genezareth, links und rechts hinter einem das Rauschen der Wasserfälle, unten in den Schluchten die Flüsse und vor einem das Land, das diese Menschen so sehr liebten, dass sie es bis zum Ende verteidigten. Dies war das letzte, was sie sahen.
Als ich schwitzend den Rückweg antrete und den Berg wieder hinaufkeuche, versuche ich, das Gesehene, mein historisches Wissen und die Berichte von Josephus irgendwie zu verarbeiten. Kein Wunder, dass Gamla „Masada der Golanhöhen“ genannt wird – doch bei dem Mut und der Tragik des Schicksals des Berges und seiner Bewohner hätte es einen eigenen Namen verdient. Als Gamla fiel, war das ein Schlag für den jüdischen Widerstand im Norden und innerhalb weniger Monate (bis zum Ende des Jahres 67 n.Chr.) war das ganze Gebiet von Römern besetzt. Die Rebellen mussten in den Süden fliehen – und damit geht das Kapitel des Widerstandes in Jerusalem und Masada weiter, wo die Römer noch Jahre lang gegen die Rebellen angehen mussten. Gamla ist ein Ort, der an Tragik und Tragweite kaum zu überbieten ist, und der dennoch auf besondere Weise für die Beziehung zwischen dem Jüdischen Volk und dem Land Israel steht.
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