Jerusalem erleben mit allen Sinnen
Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen… Unsere Sinne lassen uns die Welt, die Gott uns geschenkt hat, in ihrer Fülle wahrnehmen. Und meine Erfahrung, dass diese Sinne uns auch dankbar machen für das, was Gott uns geschenkt hat. So geht es mir gestern, als ich morgens auf eigene Faust Richtung Altstadtstadt losziehe. Und wieder fällt mir auf: Jerusalem ist wirklich ein Fest für die Sinne. Schon morgens kurz nach Sonnenaufgang öffnen die ersten Läden und als ich die Jaffa Street neben den Schienen der Straßenbahn entlanglaufe, sind schon unfassbar viele Menschen unterwegs. Ich laufe vorbei an jüdisch-orthodoxen Kindern, die Straßenbahn fährt laut hupend neben mir, ich sehe einen Flohmarkt mit zumeist orthodoxen Händlern und die City Hall Jerusalems mit einer parkähnlichen Anlage.
Und dann sehe ich sie plötzlich vor mir: die Altstadt. So wird sie bis heute genannt, obwohl die Stadt, die König David am Hang des Zion aufbaute, eigentlich ganz woanders lag – aber dazu an einem anderen Tag mehr, bleib also dabei :-) Der Teil, den wir heute als Altstadt kennen, ist auch nur ein kleiner Teil der Stadt, die zur Zeit von Herodes dem Großen innerhalb der antiken Stadtmauern lag. Es war Sultan Suleiman (ca. 1494-1566), der in der osmanischen Geschichte auch als „der Prächtige“ bezeichnet wird, der die Stadtmauern, die wir heute sehen, auf den alten Fundamenten der zerstörten Vorgängerin wieder aufrichtete. Noch heute sind über manchen Torbögen und an den einigen Eingängen der großen Tore seine Inschriften zu lesen. Ich laufe an der beeindruckenden Mauer aus Jerusalemer Sandstein, der in der Sonne goldfarben leuchtet, vorbei, gehe durch das Jaffator – und tauche ein in den Basar.
Schon umgibt mich der altbekannte Lärm von Stimmengewirr und tausende von Gerüchen und Düften strömen ineinander. Ich laufe vorbei an den arabischen Ständen, die den größten Teil des Basars einnehmen. Hier gibt es teilweise sehr kitschige Souvenirs zu kaufen, Kleidung für Frauen (manches davon in meinen Augen mehr als fragwürdig) und Kinder sowie zahlreiche Essensstände. Schließlich komme ich zum jüdischen Teil des Basars und betrete gefühlt eine ganz andere Welt. Die Wege sind sauber, die Läden größer und es werden ganz andere Gegenstände angeboten. Wieder zeigt sich, wie extrem die jüdische und die arabische Kultur auseinander klaffen können. Wunderbare Kunstwerke stehen auf der Gasse, die die Spiritualität des Judentums, prophetische Texte aus der Bibel oder sogar christliche Szenen abbilden. Vor Jahren lernte ich hier einen interessanten jüdischen Künstler kennen: Uri, der die Blue&White Gallery besitzt. Ich kaufte bei ihm auf Poster gedruckt das berühmte Bild, das drei jüdische Soldaten betend an der Klagemauer zeigt, die Arme gegenseitig über die Schultern gelegt. Biblisch gesehen, im Hinterkopf die junge Geschichte des Staates Israel ist darin die gesamte Sehnsucht, Hoffnung und Stärke ausgedrückt, die auch in der Nationalhymne haTikvah liegt. Uri erzählte mir und meiner besten Freundin, mit der ich damals unterwegs war, von seinem Vater, der bei der Rückeroberung Jerusalems im Sechs-Tage-Krieg dabei war und für den er dieses Bild gemalt hatte. Zum Abschied schenkte er mir eines von seinen anderen Bildern, auf dem ein Ölbaum zu sehen ist, der aber eigentlich aus zweien besteht: Die Stämme sind ineinander verschlungen und finden dann in einer einzigen Baumkrone zusammen. Er deutete dieses Bild (obwohl er kein messianischer Jude ist, ist es ganz ähnlich zu Römer 9-11 in unserem Neuen Testament) auf die Verbundenheit von Juden und Christen, die nicht aufzulösen sei. Ein sehr bewegender Moment, an den ich denken muss, als ich nun wieder durch die Gasse laufe.
Das Besondere an dem jüdischen Viertel ist, dass es (grob gesagt) in zwei „Stockwerke“ aufgeteilt ist.Und das hat einen guten Grund: Denn tatsächlich wurde hier im „unteren Stockwerk“, den ich gerade schon beschrieben habe, ein Teil des „Cardo maximus“ gefunden. Das war zur Zeit der Römer, als sie die Vorherrschaft in Judäa hatten, die große Handelsstraße, die durch die Stadt führte. Schon in der Gasse der jüdischen Geschäfte, die an dieser Stelle den Abschluss des Basars bildet, kann man einiges aus der Zeit sehen, aber das Spannende kommt, wenn man durch einen Torbogen tritt. Hier findet man nämlich (vier Meter unter dem heutigen jüdischen Wohnviertel der Altstadt) die alte Straße mit römischen Säulen. Gemalte Bilder an den Wänden zeigen dem Besucher anschaulich, wie der Markt damals ausgesehen haben könnte. In diesem Bereich findet man noch mehrere solcher Ausgrabungsstellen. Doch wenn man eine Treppe hinaufgeht, kommt man in das heutige jüdische Viertel der Altstadt. Fast alles ist im alten Sandstein gebaut und so führen enge Gassen und geräumige Wege hindurch zwischen Wohnhäusern, Synagogen, weiteren archäologischen Entdeckungen, Cafés und Restaurants und zahlreichen Läden mit Judaica.
Folgt man den Schildern und der leicht abfallenden Gasse noch einige hundert Meter weiter, dann sieht man sie endlich: die Klagemauer und den Tempelberg. Wie immer zu dieser Jahreszeit ist der von Sicherheitstoren umgebene Vorplatz der Kotel brechend voll. Touristen aus aller Welt strömen über den Platz und drängend sich neben die Juden, die hier beten. Ich sehe, wie sich jüdische Familien und Freunde begrüßen, die sich zu lang nicht gesehen haben. Wir haben den 5. Elul, als ich selber staunend und gerührt vor der Klagemauer stehe, und sind damit am Anfang des vielleicht wichtigsten Monats im Judentum: Denn im Elul steuert man auf die Hohen Feiertage zu. Zuerst haben wir Ende des Monats das jüdische Neujahrsfest Rosh haShanah, kurz danach Jom Kippur, den großen Versöhnungstag, und dann das Laubhüttenfest, das mit dem Fest der Freude an der Torah (Simchat Torah) abschließt. Zu dieser Zeit werden viele Juden aus der ganzen Welt nach Jerusalem kommen. Doch auch jetzt sind schon viele da, denn der Monat Elul wird genutzt, um Rückblick zu halten, die Beziehung mit Gott und den Menschen zu überdenken und Dinge gerade zu rücken.
Mit diesem Gedanken möchte ich diesen Beitrag beenden. Tatsächlich nehme ich mir im Alltag viel zu wenig Zeit, um in Ruhe mit Gott zu reflektieren. Und dabei ist genau das wichtig. Denn oft merke ich erst im Nachhinein, dass ich zu schnell, ohne innezuhalten und ohne Ihn zu fragen, gehandelt oder eine Entscheidung getroffen habe. Ich glaube zwar, dass wir durch den Heiligen Geist geleitet werden – aber trotzdem kann das Innehalten mit Gott gut tun und hilfreich sein. Ich merke, wie gut es mir tut, hier zu sein – weil ich aus all der Hektik aussteige und gar nicht anders kann, als mit Gott zu sprechen – weil ich allein hier bin und nicht in meinem gewohnten Umfeld. Ich kann mich nur auf Ihn verlassen und merke, wie Seine Stimme langsam wieder durchdringt und lauter wird. Wann hast Du Dir das letzte Mal Zeit genommen, mit Gott nachzudenken? Mit Ihm allein Zeit zu verbringen und über Entscheidungen und Deine Lebensausrichtung, Deine Beziehungen mit Ihm und mit Menschen zu sprechen?
Und dann steht da noch dieser andere Punkt im Raum: Denn ihm Monat Elul bitten Juden jeden, dem sie Unrecht getan haben (oder getan haben könnten) um Vergebung. Wo muss ich mich entschuldigen? Wem habe ich Unrecht getan im Stress des Alltags, ohne es vielleicht zu merken oder eben trotz dem ich es gemerkt habe? Um Verzeihung zu bitten, kann viel Überwindung kosten, weil man sich damit klein macht vor dem anderen. Ich muss vor meinem Gegenüber zugeben, dass ich schwach und unvollkommen bin und Fehler mache. Aber genau das kann sehr heilsam sein – denn dann werden Beziehungen heil und ich merke neu, dass ich nicht Gott bin (Gott sei Dank!) und deshalb auch nicht immer stark sein muss. Denn ich habe einen großen Gott, der meine Schuld und meinen Tod besiegt hat! Und Ihm kann ich in allem vertrauen – in der Hektik des Alltags und der Ruhe des Innehaltens.
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