Kursi – mein neuer Liebingsort
Seit Jahren schon ist er einer meiner Lieblingsberichte aus der Bibel. Um genau zu sein, seit ich eine Predigt von Steven Furtick (Elevation Church), einem meiner Lieblingsprediger aus den USA, dazu gehört habe und Gott in dem Moment sehr deutlich in mein Herz gesprochen hat: Der Bericht über Jesu Begegnung mit dem besessenen Gerasener. Es ist einer von den Texten, über den heute in unserer Gesellschaft nicht gerne gepredigt wird – dämonische Besessenheit erscheint vielen in unserem heutigen Weltbild unpassend, da lässt man unbequeme Textstellen lieber raus ;-) Und dennoch ist es eine extrem wichtige Bibelstelle. Nicht nur, weil Jesus einen armen Menschen, der über Jahre vom Satan gepeinigt wurde, heilt und ihm ein neues Leben schenkt – sondern auch, weil der Mann ein Heide ist. Aber lass uns am Anfang beginnen…
Jesus weiß genau, wo er hin will. Und dafür geht er sogar nachts auf den See (Mk 4,35). Der Messias hat seine Augen fest auf einen Ort gerichtet, an dem er bisher noch nicht war – und das aus gutem Grund, denn dort leben Heiden und betreiben einen heidnischen Kult. Ein Jude darf den Boden nicht betreten, da er sonst unrein wird. Aber Jesus hat seine Augen auf diesen Ort gerichtet und so fordert er seine Jünger auf, mit ihm auf die andere Seite zu fahren. Gehorsam lenken sie im Dunkeln das Boot von Kapernaum aus Richtung Dekapolis (die Dekapolis ist das sogenannte Zehnstättegebiet, eine Gegend, in der auf jüdischem Land zehn große heidnische Städte angesiedelt waren) – während Jesus sich hinlegt und einschläft. Drei Evangelisten (Mt 8,23ff., Mk 4,35ff., Lk 8,22ff.) erzählen uns davon, wie ein Sturm aufkommt und das Wasser des manchmal so trügerisch friedlich aussehenden Kinneret durch Fallwinde heftig aufwirbelt. Das Boot kentert fast, sogar die wassererfahrenen Männer aus Kapernaum bekommen es mit der Angst zu tun. Als sie nicht mehr weiter wissen, wenden sie sich endlich an Jesus, rütteln ihn wach und rufen ihm zu, ob es ihn denn nicht kümmert, dass sie sterben könnten. Jesus reagiert prompt:
Jesus stand auf und drohte dem Wind und den stürmischen Wellen. Plötzlich legte sich der Sturm, und alles war still! Und er fragte sie: »Wo ist euer Glaube?« (Lk 8,24f.)
Jedes Mal, wenn ich diesen Text lese, finde ich mich so sehr darin wieder: Wie oft wende ich mich erst an Jesus, wenn ich merke, dass ich allein untergehe? Und wie oft vergesse ich, dass er die Richtung vorgegeben hat, dass er mich aufgefordert hat, an einen Ort zu gehen – und dass das auch bedeutet, dass ich auf der anderen Seite ankommen werde? Mein Vertrauen ist wie das der Apostel manchmal so klein.
Aber als wenn dieses Ereignis nicht schon aufregend und lehrreich genug wäre, führt Jesus die Jünger (und uns) gleich weiter ins nächste Abenteuer. Denn der Sturm war nur der Weg – das Ziel ist eine ganz andere Art von Unruhe: Die jüdischen Männer kommen in einer Ortschaft im Gebiet der Dekapolis an. Eigentlich sollten sie den Ort gar nicht betreten. Und dann passiert es auch noch: Ein sichtlich von unreinen Geistern besessener Mann kommt aus dem Gebiet der Gräber (noch unreiner geht es nicht) am Rand der Stadt auf sie zugeraunt, schreit wild, ist sichtlich zugerichtet und schmeißt sich vor ihrem Rabbi auf den Boden.
Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? Ich bitte dich, quäle mich nicht. (Lk 8,28)
Wieder erkennt ein Dämon, wer Jesus ist, während die Menschen noch auf dem Schlauch stehen. Doch Jesus erweist sich als Herr über alles, was ist – und zeigt dies ganz bewusst: Er fragt den Dämon nach seinem Namen, wohl mehr für die Umstehenden als für seinen eigenen Kenntnisstand. Denn so wird das ganze Ausmaß des Leides des Mannes deutlich. „Legion“ nennt sich der Geist, denn er sagt, er sei nicht allein. Damit spielt er auf die heidnische Großmacht an, die das erwählte Volk unterdrückt, so wie die Geister den Mann unterdrücken. Eine Legion bestand in der Regel aus 3000-6000 Soldaten. Was diese Menge an Dämonen aus dem Mann gemacht hat, wird uns auch durch die Evangelisten geschildert: Seit Jahren war er außer sich und nicht mehr bei Verstand, redete nicht, sondern schrie herum, lebte nicht mehr unter Menschen, sondern in den Grabhöhlen am Rand des Ortes, er schlug sich selbst mit Steinen blutig und wenn jemand versuchte, ihm zu helfen, indem er ihn mit Metallketten oder Fesseln binden wollte, dann zerriss er diese – ein Zeichen für eine übermenschliche Kraft, die in ihm am Wirken war. Es wundert mich gar nicht, dass sich die Jünger ganz offensichtlich zurückhalten und sich hinter ihrem Rabbi verstecken, denn sie kommen de facto gar nicht im Geschehen vor.
Die Dämonen bitten Jesus, dass sie in eine große Herde von Schweinen fahren dürfen – und anstatt sie ganz fortzuschicken, gestattet er es ihnen. Warum? Die große Schweineherde zeigt uns, dass dies hier nicht einfach nur ein heidnischer Ort war (in einem jüdischen Ort dürfte es keine Schweine geben, da sie als unreine Tiere galten) – sondern ein Ort, an dem aktiver Götzendienst mit Schweinen als Tieropfern geführt wurde. Indem Jesus den Dämonen erlaubt, in die Schweine zu fahren, die sich danach selbst im See ertränken, entreißt er 1. vorerst dem Götzendienst dieses Ortes die Grundlage, 2. zeigt er, dass der wahre Gott gekommen ist, wenn sich die Opfer der heidnischen Götter auf sein Wort hin ersäufen, und 3. nimmt er dem Ort, der vermutlich mit Schweinen Handel trieb, die Lebensgrundlage und rüttelt sie damit auf.
Als die Hirten das sahen, flohen sie in den nahe gelegenen Ort und in das Hügelland der Umgebung und verbreiteten die Neuigkeit überall. Bald war Jesus von Menschen umringt, die selbst sehen wollten, was geschehen war. Als sie den Mann, der von Dämonen besessen gewesen war, bekleidet und völlig bei Verstand friedlich zu Füßen von Jesus sitzen sahen, überkam sie Furcht. Diejenigen, die alles mit eigenen Augen gesehen hatten, erzählten ihnen, wie der Besessene geheilt worden war. (Lk 8,34-36)
In diesem Moment sehen wir, nachdem Jesus seine Macht als Messias Israels gezeigt hat, wieder seine liebevolle Seite: Anstatt zu lehren oder ein Gericht über die Ort auszurufen, wie wir es uns vielleicht denken würden, sorgt er erstmal dafür, dass der Mann sich ausruhen kann und etwas zum Anziehen bekommt! Auf den ersten Blick scheint die Reaktion der Anwohner des Ortes erstmal sehr desillusionierend, denn sie schicken Jesus fort, obwohl er einen aus ihren Reihen geheilt hat. Aber Angst ist (bis heuet) oft die Reaktion von Menschen auf das machtvolle Wirken Gottes. Und so geht Jesus – lässt aber den ersten Missionar in dieser Gegend zurück:
»Geh zu deiner Familie zurück und erzähle ihnen von dem Wunderbaren, das Gott für dich getan hat.« Da ging er durch die ganze Stadt und erzählte, was Jesus für ihn getan hatte. (Lk 8,39)
Was die Begebenheit an sich betrifft, darf es eigentlich keinen Zweifel geben: Drei von vier Evangelisten erzählen uns davon, wie Jesus den Mann heilt. Allerdings warfen in der Theologiegeschichte zwei Details Zweifel an der Historizität des Geschehens auf: Zum einen erzählen uns Markus und Lukas, dass es sich um einen einzigen Mann gehandelt hat. Matthäus aber spricht von zwei Besessenen. Manche denken, dass es sich um zwei verschiedene Geschehnisse handelt, manche denken, dass die Unterschiede bedeuten, dass es sich nur um ein Gleichnis handelt. Tatsächlich aber sind die Evangelien Berichte, die von verschiedenen Autoren geschrieben wurden und je verschiedene Ereignisse und Blickwinkel hervorheben. Es kann also sein, Lk und Mk sich bewusst auf den einen Mann konzentriert haben.
Der zweite Knackpunkt ist der Ort des Geschehens: Matthäus spricht von dem Gebiet der Gadarener, Markus und Lukas von Gerasa. Dies ist etwas kniffliger, denn wir haben heute keine Klarheit mehr darüber, wo genau diese Gebiete lagen. Es hat vielleicht ein Gebiet Gerasa im Südosten der Dekapolis gegeben, ein Gadara im Südosten des Sees. Beide Standorte würden für unserem Bericht keinen Sinn machen, da sie zu weit vom See weg sind. Was nun?
Keiner hätte mit einem solchen Fund gerechnet, als 1969 der Boden am nördlichen Ostufer des Sees aufgerissen wurde. Eine Straße sollte hier gebaut werden, doch die Arbeiten mussten bald abgebrochen werden, als antiker Boden unter dem heutigen zum Vorschein kam. Zwischen 1971-74 wurden unter Dan Urman archäologische Ausgrabungen vorgenommen, bei denen ein Kloster aus der byzantinischen Zeit freigelegt wurde – das größte, das bisher gefunden wurde. Bald darauf wurde am Ufer ein antiker Hafen entdeckt. 1980 wurde der Nationalpark „Kursi“ eröffnet.
Kursi ist der arabische Name für den Ort. Eigentlich gab es hier während der talmusischen Epoche ein jüdisches Fischerdorf. Doch haben sich auch byzantinische Mönche ein Zuhause geschaffen. Das Klostergelände ist sehr weitläufig. So gab es nicht nur die Kirche und Wohnhäuser, sondern auch Badehäuser, wirtschaftliche Einrichtungen, Landwirtschaft und Fischerei sowie eine Herberge für Pilger. In der Basilika sind aufwendige Mosaike (eine Inschrift besagte dass der Boden 585 n.Chr. fertiggestellt wurde) und Säulen gefunden worden, ein Taufbecken und unter dem Altar sogar eine Schatulle für Reliquien. Das bekannteste der Mosaike ist wohl das Vogel-Mosaik: Es wird angenommen, dass es sich um zwei Tauben handelt, die für den Heiligen Geist und die Reinheit Marias gestanden haben könnten.
Was fehlt, ist eine Darstellung der Begebenheit, die hier stattgefunden haben soll, selbst. Ob sie nie existiert hat (wie solche Forscher behaupten, die die Tradition in Frage stellen) oder ob es im Laufe der Geschichte zerstört wurde (wie die andere Seite annimmt) – das wird erstmal noch offenbleiben müssen. Die Ausgrabungen halten immer noch an, vielleicht gibt es also bald Klarheit darüber.
Doch ist das Kloster nicht der einzige Fund. 1980 wurde auf einem nahegelegenen Hügel eine kleine Kapelle freigelegt. Hier soll der christlichen Tradition nach die eigentliche Begegnung zwischen Jesus und dem besessenen Mann stattgefunden haben. Zerstört wurde die Klosteranlage wohl während der persischen Invasion 614 n.Chr. Nach einer kurzen Wiederbelebung wurde das Kloster im 8. Jhdt. komplett verlassen und verfiel.
Doch was hat die Mönche überhaupt an diesen Ort geführt? Dafür ist wohl der Kirchenvater Origines (182-251) verantwortlich. Er war es, der Kursi mit dem Ort des Geschehens um den Gerasener gleichsetzte. Im Laufe der Kirchengeschichte wurde dies immer wieder aufgegriffen und bestätigt. Wie genau dieser Ort mit dem anderen Gerasa und Gadara zusammenpasst, wissen wir nicht. Vielleicht gehen uns die weiteren Ausgrabungen bald Aufschluss darüber. Eine Möglichkeit wäre, dass die Gebiete in dieser Region zusammenliefen oder hier eine Mischbevölkerung lebte.
Ich jedenfalls habe mich in diesen Ort verliebt. Nicht nur, weil der Bericht einer meiner liebsten aus der Bibel ist, sondern auch wegen des Ortes: Die Lage und die Ruhe geben einem den Raum, vom Touri-Trubel etwas runterzukommen und sich ganz auf ein Wunder Jesu einzulassen, auf das Schicksal des Mannes, mit dem sich garantiert jeder von uns auf die ein oder andere Art und Weise identifizieren kann, und die Liebe unseres Gottes, die sich in allem zeigt – der Stillung des Sturms, der Befreiung des Mannes und seiner Berufung und in dem Handeln am ganzen Ort. Hier werde ich nochmal hinfahren, bevor mein Urlaub zu Ende ist…
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