Neue Perspektive

Die Ausläufer des Golan sind wunderschön: In sanften, aber massiven Kurven führen die Straßen den Besucher hinauf in die hohen Berge auf der Ostseite des Sees, die sich bis in den Norden des Landes erstrecken.

Was für eine Schönheit!

Staunend stehe ich am Aussichtspunkt, der mein Ziel des heutigen Ausflugs ist. Mein Herz hüpft in meiner Brust und gleichzeitig kommen mir die Tränen, als ich meinen Blick über die Schöpfung schweifen lasse, die vor mir liegt. Rechts neben mir fällt die tiefe Schlucht der Golanhöhen ab, durch die mich die Straße in Schlangenlinien gerade hierhergeführt hat. Dahinter erheben sich die mächtigen und doch so elegant geformten Berge des Golan. Und vor mir liegt der Kinneret, der See Genezareth, Herzstück dieser Gegend. Trotz des Sonnenscheins und der angenehmen (für eine Deutsche eher sommerlichen) Temperaturen liegt heute ein sanfter Dunst über dem Wasser und legt sich sogar über die Berge auf der anderen Seite: Der Arbel ist in einen Dunstschleier gehüllt, Tiberias liegt im leichten Nebel. Sogar der Berg Tabor zeigt sich und lugt ganz hinten aus den diesigen Nebelschwaden hervor. Diese Art von Schönheit ist ganz anders als die, die ich sonst auf meinen Besuchen im Hochsommer hier in Israel erlebt habe.

In den Nebelschwaden sieht man mittig rechts die schroffe Klippe des Arbel. Darunter würde man ohne Nebel Migdal (Magdala) sehen können. Links daneben liegt Tveria (Tiberias). Und weiter links im Hintergrund erhebt sich der Tabor.

Dies ist mein erster Besuch in Israel in der Zeit, die man hier Winter nennt. Gerade sind es immer noch sehr freundliche 20 Grad Celsius, aber in den nächsten Tagen wird es Regen geben und die Temperatur soll auf bis zu 14 Grad abfallen. Ein Wetter, das die Natur hier im Nahen Osten dringend braucht nach den langen heißen und trockenen Monaten. Und während sich Mensch und Natur freuen, staune ich über den Anblick, der so neu für mich ist. Es ist derselbe Ort, den ich vor über 10 Jahren lieben gelernt habe, dasselbe Land, und doch ist alles anders – es riecht anders, die Farben sind anders, es fühlt sich einfach anders an.

Und da kommt mir der Gedanke: Ist es nicht witzig, wie Gott uns manchmal eine neue Perspektive schenkt auf etwas, das wir schon so lange kennen und in dem wir manchmal in einer Selbstverständlichkeit gefangen sind?

Wenn man genau hinschaut, kann man am Nordwestufer des Sees den Berg der Seligpreisungen sehen sowie Tabgha, Kapernaum und und weiter nördlich Bethsaida. Direkt rechts unterhalb dieses Berges liegt Kursi.

Ehrlich gesagt ist das etwas, was ich in den letzten drei Jahren immer wieder mit Gott erlebt habe. Als die Ungewissheit der Pandemie begann, lernte ich meine Familie ganz neu lieben, als man manche plötzlich nicht mehr sehen konnte, man aber auch aufeinander geworfen war in all dem Durcheinander. Als ich selbst Corona hatte, lerne ich das Leben neu lieben, da mir klar wurde, dass nichts, aber auch gar nichts selbstverständlich ist – weder das Atmen noch das Schmecken, das Riechen, das Gehen oder auch einfach eine simple Schmerzfreiheit im Alltag. In meinem beruflichen Leben veränderte Gott meine Perspektive auf vieles, was ich vorher als sicher und gegeben ansah. Und auch in meinem Glauben forderte Er selbst mich heraus.

Diese Zeiten, in denen Gott uns eine neue Perspektive schenkt, können befreiend und wunderschön sein oder aber auch (erstmal) herausfordernd und manchmal schmerzhaft. Bei beiden Varianten habe ich gemerkt, dass sie zwei Dinge mit sich bringen: Demut und Freude.

Demut, weil ich merke, dass ich eben nicht alles weiß und durchblickt habe. Ungewissheit, Schmerz, ja sogar Angst oder einfach Orientierungslosigkeit können uns demütig machen. Denn plötzlich sind wir mit unser eigenen Blindheit, unseren ganz menschlichen Grenzen konfrontiert. Nicht nur habe ich neu gelernt, dass Gott mein einziger Anker und vor allem mein einziger Leitstern in diesem Leben ist. Ich habe auch eine neue Barmherzigkeit anderen Menschen gegenüber gelernt – wenn ich meine Fehltritte und Schwächen sehe und merke, dass Gott meinen Blick umlenken muss, dann darf das bei anderen auch sein. Wir alle sind auf dem Weg. Und das Wichtigste, das Allerwichtigste in diesem Leben ist die Liebe für meinen Nächsten: Gott hat uns Weggemeinschaft mit anderen geschenkt, damit wir einander auf unserem Weg durch diese manchmal so turbulente Welt helfen und beistehen können. Was wäre ich heute ohne all die Menschen, durch die Gott zu mir gesprochen hat, als andere sich abwandten und doch nicht so waren, wie ich dachte? Was hätte ich getan ohne die, die ein offenes Ohr für mich hatten, die für mich gebetet haben, als mir die Worte fehlten und ich einfach nur durcheinander war? Demut ist ein Geschenk und bereichert nicht nur meinen Charakter, sondern macht auch meine Beziehungen zu Menschen und Gott selbst um einiges tiefer!

Man kann sogar bis ganz an das Südende des Sees blicken, an dem der See in den Jordan übergeht und das Land wieder flacher wird.

Aber sie steht nicht allein, sondern wird begleitet von Freude – und die gilt es manchmal auszugraben und festzuhalten, wenn Gott unsere Perspektive ändert. Manchmal braucht man etwas, um offen für diese Freude zu sein, manchmal bricht sie gleich über einen herein wie ein warmer Sommerregen. Aber sie kommt. Wenn Gott uns einen neuen Blick schenkt, dann kann etwas Neues beginnen: Sei es beruflich oder in meiner Ausbildung, sei es in Beziehungen oder der Ehe, sei es in meinen Denkstrukturen oder Verhaltensmustern. Es kann befreiend sein, wenn man bemerkt, dass man gar nicht dem entsprechen muss, was andere von mir erwartet haben, sondern dass es in jeder Hinsicht und jedem Lebensbereich darum geht, die Berufung zu finden, die Gott über meinem Leben ausgesprochen hat. Meine wirkliche, mir ganz eigene Identität zu leben und keine menschengemachten Rollen leben zu müssen.

Und so stehe ich nach genau so einem Perspektivwechsel in meinem eigenen Leben hier auf dem Berg und schaue auf die Landschaft, die ich so gut zu kennen glaubte und die mich doch so überrascht. Und ich kann nur staunen. Und fragen: Was, Gott? Was ist es, was Du mir zeigen willst – über dieses Land, aber auch über mein Leben? Was möchtest Du, Gott, aus dieser Phase meines Lebens, durch die Du mich gerade hindurchgeführt hast, hervorbringen? Was genau willst Du mir gerade sagen, in mir und vor allem durch mich bewirken? Wofür möchtest Du mich gebrauchen in dieser neuen Freiheit, mit dieser neuen Perspektive?

Ich möchte Dich dazu einladen, einen Moment innezuhalten und Dich selbst zu fragen, aus welcher Phase zu gerade kommst – oder in welcher Du gerade vielleicht noch mittendrin steckst. Wie geht es Dir? Wie geht es Dir mit Deinem Leben und in Deinem Glauben? Wo hat Gott Deine Perspektive schon verändert – oder wo möchte Er das gerade tun, um Dich freizusetzen?

Freizusetzen von falschen Erwartungen von Dir selbst und anderen, von Denkmustern und Glaubenssätzen, von falschen Rollen und Mustern. Freizusetzen für Deine Berufung und eine neue Phase in Deinem Leben, für die Menschen, zu denen Gott Dich senden möchte, für die Identität, die eigentlich schon die Deine ist, für Sein Königreich.

All diese Gedanken kamen mir übrigens auf dem sogenannten Ofir Lookout. Ofir war ein 16jähriger jüdischer Israeli, der an einer seltenen Erkrankung starb. Für sein Gedenken wurde dieser wunderbare Ort hergerichtet.

Dieser wunderbare Ort ist eine Art Geheimtipp. Hier kommen Israelis her, um eine Mittagspause oder den Sonnenuntergang zu genießen.

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