Ostersonntag – Er hat es vollbracht!
„Glaubst du das?“ Diese Frage hat uns gestern durch den Karsamstag begleitet, diesen so seltsam stillen und bedrückenden Tag. Doch bin ich sicher, dass diese Frage Dir gestern nicht das erste Mal begegnet ist: In verschiedensten Situationen trifft sie uns immer wieder in unserem Leben. Vielleicht wurde sie Dir schon gestellt, als Du Dich einmal als gläubiger Christ bekannt hast, Dein Gesprächspartner dem biblischen Glauben jedoch rein gar nichts abgewinnen konnte. Manchmal stellen sich auch Christen verschiedener Konfessionen gegenseitig diese Frage, wenn es um bestimmte Themen wie Taufe, Sünde oder Auferstehung geht. Doch am gnadenlosesten nagt diese Frage an unserem Herzen, wenn wir sie uns selbst stellen: Im Angesicht zerbrochener Träume und Beziehungen, Familien und Leben drängt sich diese Frage wohl jedem zuweilen in die Gedanken, der mit dem Evangelium Jesu Christi vertraut ist.
Es hätte mich nicht gewundert, wenn meine Schwägerin sich diese Frage gestellt hätte, als sie ihre beste Freundin seit Kindheitstagen, die als frisch gebackene Mutter einer wunderschönen Tochter mit gerade mal 30 Jahren an Krebs verstorben war, zu Grabe tragen musste; es hätte mich nicht gewundert, wenn meine beiden Bekannten, die ihre Männer an die gleiche Krankheit verloren hatten, sich diese Frage gestellt hätten, als sie plötzlich im leeren Haus allein weiterleben mussten; es hätte mich nicht gewundert, wenn die christliche Lobpreisleiterin einer großen Gemeinde, in der ständig Wunder erlebt werden, dabei zusehen musste, wie ihre zweijährige Tochter einfach aufhörte zu atmen und ihre Gebete nicht erhört wurden; es würde mich nicht wundern, wenn sich in dieser Sekunde tausende von Menschen im Angesicht von Tod und Krankheit, Krieg und Zerstörung diese Frage stellen.
Es ist leicht, die Frage, ob ich glaube, zu bejahen, wenn mein Leben gut läuft und ich meinen Alltag anständig bewältigen kann. Aber was ist in den anderen Zeiten – wenn Dinge zerbrechen, wenn ich das Vergangene nicht mehr zurückholen kann und Ungewissheit vor mir liegt, wenn ich einen furchtbaren Verlust erlebe und ich mich ganz allein einer geradezu verzehrenden Angst stellen muss? „Glaubst du das?“
Vielleicht weißt Du schon, dass die Schriften des Alten Testaments ursprünglich in antikem Hebräisch und die des Neuen Testaments in altem Griechisch geschrieben wurden. Obwohl diese beiden Sprachen so verschieden sind, verwenden sie beide für das, was wir als „glauben“ übersetzen, ein Wort, das am besten mit „vertrauen auf“ wiedergegeben werden kann. Die Frage ist also nicht die, ob Du ein abstraktes Dogma, eine verstaubte Lehre abnicken kannst, die scheinbar so lebensfern ist. Die Frage ist: Selbst wenn Du an Deine Grenzen kommst – glaubst Du dennoch dem, der Dir so nah war, vertraust Du dennoch auf das, was er gesagt hat? „Glaubst du das?“
Die Jünger verzweifeln schier an dieser Frage, die sie seit dem gestrigen Ruhetag nicht mehr losgelassen hat. Wie kann man auf etwas vertrauen, was so offensichtlich schiefgelaufen ist? Jesus ist tot. Es war kein Albtraum, das wird den Männern klar, als sie am frühen Morgen von klappernden Geräuschen geweckt werden. Sie haben kaum ein paar Stunden geschlafen – wie kann man das auch mit diesem bohrenden Schmerz im Herzen, diesem Loch in der Brust und diesen wirren Gedanken, die sich immer und immer wieder im Kreis drehen?
Verschlafen schauen sie auf und sehen, wie die Frauen ihre Sachen zusammenräumen. Am Vorabend haben sie schon die gekauften Salben, Öle und Gewürze vorbereitet. Maria Magdalena führt die Gruppe an, sie war schon immer unermüdlich – das ist den Jüngern sofort aufgefallen, als sie sie das erste Mal gesehen haben. Damals führte sie ein heruntergekommenes Leben: Sie war besessen von mehreren Geistern1Lk 8,2 und verdiente ihren Lebensunterhalt mit Prostitution. Jeder andere jüdische Mann, der etwas auf sich hielt, ging auf Abstand und ignorierte sie möglichst – nicht Jesus. Dies ist einer der Momente mit Jesus, der die Jünger gleichzeitig fassungslos und ehrfürchtig gemacht hat: Jesus hat Maria gesehen und er hat sie nicht aus den Augen gelassen trotz der Menschenmengen, die ihn umgaben, wie immer, wenn Jesus in ein Dorf kam – alle wollten sie ihn sehen: Es hatte sich herumgesprochen, dass seine Auslegungen außergewöhnlich waren und man ihn nur berühren musste, um Heilung zu erfahren. Aber all das konnte ihn nicht ablenken: Mit seiner durchdringenden Stimme, die Jahre später Lazarus aus dem Totenreich zurückholen sollte, rief er ihren Namen. Sie blieb stehen und starrte ihn an, halb zerrten die Geister an ihr, nur fort von Jesus, aber sie konnte ihren Blick von seinen Augen nicht abwenden – diese Augen, die bis in ihre Seele zu blicken schienen, vorbei an all dem Missgestalteten, Verkommenen und Vereinsamten in ihr. Mit befehlender Stimme rief Jesus die Geister aus der Frau heraus. Die Menge starrte auf die Frau, die von der Wucht von etwas, was im Unsichtbaren geschehen war, in den Staub geworfen wurde. Alles war still, als Jesus sich einen Weg an der Menge vorbei zu ihr bahnte. Es ging ein Raunen durch die Menge, als er sich in den Staub kniete und sie berührte – die Frau mochte nun zwar frei von den Dämonen sein, aber dennoch war sie unrein! Wenn Jesus sie berührte, würde auch er unrein werden. Doch er ignorierte das Stimmengewirr und half Maria auf die Beine, die sich umschaute, als sähe sie zum ersten Mal seit Langem das Sonnenlicht. Ihr Blick blieb an Jesus hängen und Tränen rollten über ihr Gesicht.
Von da an folgte sie ihm überall hin und wurde zu einer seiner ersten Jüngerinnen, versorgte die Männer so gut sie konnte und hörte leidenschaftlich zu, wenn Jesus von Gott erzählte. Sie war als Einzige mit Johannes und Jesu Mutter bei seiner Verurteilung dabei, folgte ihm bis zum Kreuz und harrte in Finsternis und Sturm aus, bis er gestorben war. Sie hielt Jesu Mutter im Arm auf dem Weg zum Grab und balsamierte zusammen mit Maria den Leichnam ihres Herrn ein. Mit verweinten Augen macht sie sich nun mit den anderen Frauen auf den Weg, um den Leichnam dessen einzubalsamieren, der ihr Leben für immer verändert hat. Die Jünger wenden sich ab, als die Frauen die Tür hinter sich schließen; sie haben keine Kraft mitzugehen, keinen Mut – wer weiß, ob sie nicht mittlerweile auch auf der Liste des Hohenrates stehen?
Die Frauen reden kaum miteinander, als sie durch die noch im Schlaf daliegende Stadt gehen. Sie wollten mit der Dämmerung aufbrechen, um möglichst wenigen Menschen auf dem Weg zu begegnen und mit dem ersten Tageslicht am Grab zu sein. So laufen sie still auf den Ort zu, an dem vorgestern das Unvorstellbare geschehen ist. Warum nur musste das Grab so dicht an Golgotha liegen, wo regelmäßig Kreuze aufgestellt wurden und deshalb Pfützen von getrocknetem Blut den Boden besudeln?
Maria fängt leise an, ein Lied zu singen – den Psalm, den Jesus am Kreuz angefangen hatte zu zitieren:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum bleibst du fern von meiner Rettung, von den Worten meiner Klage? (…) Auf dich haben unsere Väter vertraut; sie vertrauten, und du hast sie errettet. Zu dir riefen sie und haben Rettung gefunden; auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden. Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, spotten über mich; sie reißen den Mund auf und schütteln den Kopf: »Er soll doch auf den HERRN vertrauen; der soll ihn befreien; der soll ihn retten, er hat ja Lust an ihm!« Ja, du hast mich aus dem Leib meiner Mutter gezogen, du warst meine Zuversicht schon an meiner Mutter Brust. Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an; vom Leib meiner Mutter her bist du mein Gott. Sei nicht fern von mir! Denn Drangsal ist nahe, und kein Helfer ist da. Es umringen mich große Stiere, mächtige Stiere von Baschan umzingeln mich. Sie sperren ihr Maul gegen mich auf wie ein reißender und brüllender Löwe. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, und alle meine Gebeine sind ausgerenkt. Mein Herz ist geworden wie Wachs, zerschmolzen in meinem Innern. Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in den Staub des Todes. Denn Hunde umringen mich, eine Rotte von Übeltätern umgibt mich; sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben. Ich kann alle meine Gebeine zäh- len; sie schauen her und sehen mich schadenfroh an. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los über mein Gewand. (…)“ (Ps 22,2-19, Schlachter)
Als sie den Psalm nun singt, fällt Maria auf, wie genau er das Geschehen bei Golgotha wiedergibt. Wusste Jesus das, als er in seiner Qual kaum mehr als den ersten Vers ausrufen konnte? Sie hat in dem Moment gedacht, es sei einfach ein Hilferuf an Gott gewesen und in verzweifelter Ohnmacht hatte sie zu dem Mann aufgeschaut, der ihr im Namen seines, ihres Gottes ein neues Leben geschenkt hatte. Aber nun runzelt sie die Stirn: Sie kennt die Geschichten, die Jesu Mutter über seine Kindheit und Jugend erzählte, wie er damals schon am allerliebsten im Tempel war und über Gott und seine Wunder sprach. Durchgraben waren seine Hände und Füße bei Golgotha wirklich gewesen und er hat nach einigen Stunden in der Hitze einen solch trockenen Mund gehabt, dass er an einem schwamm mit Essig sog, um seine Lippen zu benetzen. Den abgehärteten Soldaten war mit der Zeit langweilig und sie verlosten untereinander die Sachen, die sie Jesus vor der Hinrichtung ausgezogen hatten.2beispielsweise in Mt 27,32-49
Wie ging das Lied noch weiter? „Errette meine Seele von dem Schwert, meine einsame von der Gewalt der Hunde!“ Beim Singen dieses Verses bricht ihre Stimme, vielleicht passt nicht alles in diesem Lied zu Jesus, vielleicht sind die Gemeinsamkeiten nur Zufall?„Ja, du hast mich erhört!“ Hat er das? Jesus ist tot. „So will ich meinen Brüdern deinen Namen verkündigen; inmitten der Gemeinde will ich dich loben! Die ihr den HERRN fürchtet, lobt ihn! Ihr alle vom Samen Jakobs, ehrt ihn; und scheue dich vor ihm, du ganzer Same Israels! Denn er hat nicht verachtet noch verabscheut das Elend des Armen, und hat sein Angesicht nicht vor ihm verborgen, und als er zu ihm schrie, erhörte er ihn. Von dir soll mein Loblied handeln in der großen Gemeinde; ich will meine Gelübde erfüllen vor denen, die ihn fürchten! Die Elenden sollen essen und satt werden; die den HERRN suchen, werden ihn loben; euer Herz soll ewiglich leben! Daran werden gedenken und zum HERRN umkehren alle Enden der Erde, und vor dir werden anbeten alle Geschlechter der Heiden. Denn das Königreich gehört dem HERRN, und er ist Herrscher über die Nationen. Es werden essen und anbeten alle Großen der Erde; vor ihm werden ihre Knie beugen alle, die in den Staub hinabfahren, und wer seine Seele nicht lebendig erhalten kann. Ein Same wird ihm dienen, wird dem Herrn als Geschlecht zugezählt werden. Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit verkündigen dem Volk, das geboren wird, dass er es vollbracht hat.“ (Ps 22,20-32, Schlachter)
Was für eine wunderbare Verheißung. Aber sie ist nun zunichte gemacht – denn der Leichnam dieser Hoffnung liegt in einem Grab gleich um die Ecke. Eine der anderen Frauen packt Maria am Arm und hält sie zurück, als sie um die Ecke biegen will. Da hört sie es auch: Männerstimmen! Die Frauen schauen vorsichtig zwischen den Büschen hindurch, die sie noch von dem Grab ihres Rabbis trennen: Soldaten. Sie sehen sich verzweifelt an. Warum sind Wachen vor dem Grab Jesu abgestellt? Kam dieser Befehl vom Stadthalter oder vom Hohenrat? Eigentlich ist es egal, denn nun gibt es keine Möglichkeit mehr für sie, den Leichnam ihres Freundes einzubalsamieren, denn das Grab ist anscheinend noch versiegelt worden. Die Frauen verharren, unschlüssig, was zu tun ist, denn sie wissen, dass diese Situation für sie gefährlich werden kann, wenn die Soldaten sie sehen. Einer der Männer scheint sie bemerkt zu haben und schaut in ihre Richtung; die Frauen wollen sich umdrehen und zurückgehen, doch mit einem Mal fangen sie an zu stolpern: Die Erde bebt. Eine der Frauen schreit – das letzte Erdbeben gab es erst vor zwei Tagen, in dem Moment, als Jesus gestorben ist. Das Beben wird immer heftiger, sie versuchen, einander zu stützen, aber Maria stolpert und fällt auf die Knie; auch die Soldaten fangen an, durcheinander zu rufen, aber die Anweisungen, die gebrüllt werden, werden übertönt von einem Brausen. Ein helles Licht, heller als der gleißendste Blitz, strahlt auf. Die Frauen werfen sich keuchend auf den Boden und bedecken ihre Augen. Dann – ist es still…
Maria blinzelt vorsichtig. Alles ist ruhig. Sie rappelt sich auf, rennt um die Kurve zum Grab und schlägt sich die Hand vor den Mund: Die bewaffneten Soldaten liegen auf dem Boden und rühren sich nicht, aber der Stein! Der Stein ist fortgerollt und liegt neben der Graböffnung. Maria beginnt zu zittern, denn vor ihr sitzt ein Mann auf dem Stein, den sie vorher nicht gesehen hatte. Nein, kein Mann: Seine Gestalt sieht zwar aus wie die eines Mannes, aber er ist größer, kräftiger und strahlend hell, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen kann. Ist das ein Bote Gottes, wie er in den alten Geschich- ten vorkommt? Als die anderen Frauen hinter ihr stehen bleiben, fängt der Mann an zu sprechen: „Habt keine Angst! Ich weiß, ihr sucht Jesus, der gekreuzigt wurde. Er ist nicht hier! Er ist von den Toten auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt und seht, wo sein Leichnam gelegen hat.“3Mt 28,5-6, NLB Fassungslos starren die Frauen ihn an, aber er weist ins Innere des Grabes und sie können die Leinengewänder sehen, in die sie selbst Jesus vorges- tern noch gewickelt haben – leere Leinentücher. Er ist nicht hier!4Mt 28,1-7
Maria dreht ich um und beginnt zu rennen. Die anderen Frauen rufen ihr hinterher, aber es ist ihr egal – es ist ihr auch egal, was die anderen Menschen, die mittlerweile auf den Straßen unterwegs sind, denken. Sie muss zu Petrus! Jesus ist fort! Als sie endlich am Haus ankommt, hämmert sie gegen die Tür. Sie stürmt hinein und wird von den Jüngern verwirrt angeschaut. Stotternd, um Worte ringend berichtet sie, was geschehen ist. Einige der Männer fangen an, mitleidig zu lächeln, andere wenden sich genervt ab. Maria wendet sich an Petrus, er hat so viel mit Jesus erlebt, er muss ihr glauben. Der kräftige Fischer richtet seine endlos traurigen Augen auf sie, als sie ihn anfleht mitzukommen. Schließlich nickt er. Johannes, der immer besonders Jesu Nähe gesucht und am Kreuz die Verantwortung für dessen Mutter übernommen hat, läuft ihnen hinterher.
Wieder sprechen sie kaum auf dem Weg, die Männer schauen sich misstrauisch um. Hinter der Stadtmauer fragt Petrus noch einmal, was passiert ist. Stotternd erzählt Maria erneut, die Männer beschleunigen angespannt ihre Schritte und laufen fast – es ist nicht mehr weit. Bei dem ersten Baum des Gartens fängt Johannes an zu rennen, Petrus und Maria laufen ihm hinterher und sehen ihn vor dem offenen Grab stehen – die Soldaten sind nirgends zu sehen und der Mann ist fort, aber der Stein liegt noch dort. Petrus schiebt sich an Johannes vorbei und betritt das Grab – es ist leer. Nur die Leichentücher liegen zusammengefaltet an der Stelle, wo der Leichnam hätte liegen müssen. Er ist nicht hier!5Joh 20,1-10
Maria steht zusammen mit den anderen Frauen, die am Grab gewartet haben, im Garten und weint. Petrus und Johannes sind unverrichteter Dinge wieder gegangen, aber was hätten sie auch tun sollen? Jesus ist weg, was immer das auch zu bedeuten hat. Die Erscheinung dieses gleißend hellen Mannes scheinen die Männer ihnen nur halbwegs zu glauben. Sie verübeln es ihnen nicht. Würden sie es selbst glauben, wenn sie es nicht gesehen und gehört hätten?
Maria geht wieder zum Grab, sie kann es einfach nicht fassen. Sie schaut noch einmal hinein und sieht die leeren Leichentücher. Plötzlich erklingt hinter ihr eine Stimme, die eines Mannes: „Warum weinst du? Wen suchst du?“6Joh 20,15, NLB Sie wirft einen Blick über ihre Schulter, aber sieht wegen des Sonnenlichts und ihrer Tränen nur die Silhouette des Mannes. Ist es der zuständige Gärtner? Es ist ihr egal, dass er sieht, wie sie weint. Sie wendet sich wieder zum Grab und antwortet „Herr, wenn du ihn weggenommen hast, sag mir, wo du ihn hingebracht hast; dann gehe ich ihn holen.“ Es bleibt still hinter ihr. Maria stockt – ihre Gedanken werden ruhig, die Angst ist plötzlich fort. Woher kommt mit einem Mal dieser Friede in ihrem Herzen? Das letzte Mal hat sie sich so gefühlt, als… „Maria!“, sagt die Stimme. Langsam dreht sich um… Wie kann das möglich sein?7Joh 20,11-16
Kleopas und sein Freund schwitzen.8Lk 24,13-35 Warum müssen sie auch gerade jetzt nach Emmaus zurücklaufen? Jeder Israelit weiß, dass man nicht mittags einen solchen Marsch in der immer stärker werdenden Hitze des Monats Nisan macht. Sie hätten früher aufbrechen oder noch bis zum Nachmittag warten sollen, aber sie haben es nicht geschafft. Keiner von ihnen wollte noch länger in Jerusalem bleiben. Sonst hatten sie die Wallfahrtsfeste immer geliebt, besonders in den letzten Jahren, seit sie Jesus kennen gelernt hatten: Er hatte ihnen die Bedeutung der Feste ganz neu erklärt, während der Gottesdienste empfanden sie eine Dankbarkeit wie nie zuvor und bei den Festgemeinschaften eine tiefe Freude. So viel haben sie Jesus zu verdanken, jedes Mal, wenn er in Jerusalem war, suchten sie seine Nähe und wollten von ihm lernen. Das letzte Mal haben sie ihn am Vortag des Passah-Festes gesehen: Sie haben miteinander gelacht und er segnete sie zum Abschied für das Fest. Sie feierten zwar nicht mit ihm zusammen, aber auch in ihrer eigenen Festgemeinschaft kam Freude auf. Aber irgendetwas war komisch: Als der Abend voranschritt, fühlten sie sich beide unbehaglich und irgendwie unter Spannung. Nach einer fast schlaflosen Nacht hörten sie am nächsten Morgen die Neuigkeiten: Sie hatten Jesus gefangengenommen und verurteilt, alles in einer heimlichen Nacht- und Nebelaktion, ohne richtigen Prozess. Nun hing er an einem Kreuz bei Golgotha, der gefürchtetsten Stelle in ganz Jerusalem. Nein, sie konnten nicht hingehen, sie hätten den Anblick nicht ertragen können. Am Schabbat hatten sie sich mehr oder weniger eingeschlossen, aber heute früh sind sie gleich zu dem Haus gegangen, wo die engsten Freunde Jesu wohnten. Die Männer erzählten ihnen alles, was geschehen war. Jesus war tot. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Maria Magdalena kam reingestürzt und stotterte etwas von einem kaputten Stein und leeren Leichentüchern und einem Blitz. Petrus und Johannes liefen mit ihr zurück zum Grab, während der Rest der Männer zurückblieb und sich austauschte, versuchte, sich gegenseitig zu bestärken und die letzten drei Jahre nicht für verloren zu halten. Nach einiger Zeit kamen Johannes und Petrus ohne die Frauen wieder: Das Grab, in dem Jesus gelegen hatte, war wirklich leer! Der Leichnam war fort. Aber einen gleißend hellen Mann hatten sie nicht gesehen. Kleopas und sein Freund verabschiedeten sich von ihren langjährigen Freunden. Nächstes Jahr in Jerusalem? Keiner konnte wissen, was nun geschah, wo der Rabbi fort war.
Aufgebracht machten sich die beiden auf den Weg in ihre Heimat, einen 11 Kilometer- Marsch von Jerusalem entfernt. Zuerst hingen sie bloß still ihren Gedanken nach, aber nun sprechen sie aus, was ihnen auf dem Herzen liegt: Was nun? Wie konnte es so weit kommen? Sie sind so vertieft in ihr Gespräch, dass sie die Schritte hinter sich erst gar nicht hören. Plötzlich läuft ein Mann neben ihnen, verhüllt in einer Kapuze als Schutz vor der stechenden Sonne. Er grüßt sie freundlich, aber Kleopas nickt ihm nur kurz zu und wendet seinen Blick wieder auf den Boden vor seinen Füßen – jeder Schritt trägt ihn weiter weg von dem Mann, der sein Leben verändert hat. Der Fremde reißt ihn wieder aus seinen finsteren Gedanken und fragt, worüber sie sprechen, dass sie so niedergeschlagen sind. „Du bist wohl der einzige Mensch in Jerusalem, der nicht gehört hat, was sich dort in den letzten Tagen ereignet hat. Das, was mit Jesus von Nazareth geschehen ist. Er war ein Prophet, der vor Gott und dem ganzen Volk erstaunliche Wunder tat und mit großer Vollmacht lehrte. Doch unsere obersten Priester und die anderen Ältesten haben ihn verhaftet, den Römern ausgeliefert und zum Tod verurteilen lassen, und er wurde gekreuzigt. Wir hatten gehofft, er sei der Christus, der Israel retten und erlösen wird.“9Lk 24,18-21, NLB Kleopas lässt seine ganze Enttäuschung heraus: Er erzählt dem Fremden alles, was in den letzten Tagen geschehen ist. Als er geendet hat, gibt der Fremde ein Geräusch von sich, das fast entrüstet klingt: „Was seid ihr doch für unverständige Leute! Es fällt euch so schwer zu glauben, was die Propheten in der Schrift gesagt haben. Haben sie nicht angekündigt, dass der Christus alle diese Dinge erleiden muss, bevor er verherrlicht wird?“10Lk 24,25-26, NLB Kleopas und sein Freund schauen sich überrascht an: Hat der Fremde Jesus etwa genauso gut gekannt wie sie? Hat er auch gedacht, dass Jesus der Messias ist, der den Neuen Bund bringt? Aber warum ist er dann nicht so niedergeschlagen wie sie?
Sie laufen neben diesem wundersamen Mann her, als der anfängt, wie ein geschulter Rabbi von dem Messias zu sprechen: Bei Mose beginnend erklärt er ihnen die ganze Schrift, die den Retter Israels und der Welt ankündigt. Sie lauschen ganz gebannt seiner Stimme, die ihnen das Wort Gottes aufschließt, wie niemand zuvor; niemand, außer… Nein, nicht den Schmerz wieder fühlen. Sie konzentrieren sich auf diesen neuen Lehrer, der neben ihnen herläuft, und mit einem Mal macht sich Frieden in ihnen breit, ein Frieden, wie sie ihn schon einigen Tage nicht mehr gespürt haben. Als der Fremde von dem Neuen Bund spricht, beginnt ihr Herz zu brennen! Seine Stimme dringt in die Tiefe ihrer Gedanken, Aufregung macht sich in ihnen breit, eine ungeahnte Freude lässt ihre Schritte leichter werden. Sie merken gar nicht, wie sich die Sonne dem Horizont nähert und sie schon in ihrem Heimatdorf ankommen. Als wüsste der Fremde, dass sie hier wohnen, hebt er die Hand zum Gruß und will weitergehen. „Nein!“, ruft Kleopas, ohne zu wissen, was sein Mund da tut. „Warte!“ Er stottert etwas von Abend und einem gefährlichen Weg im Dunkeln. Sein Freund unterstützt ihn und so nötigen sie den Lehrer geradezu, ihr Gast beim Abendessen zu sein. Als sie schließlich in Kleopas ́ Haus am Tisch sitzen und verlegen den Fremden mustern, der immer noch seine Reisekleidung trägt, steht der plötzlich auf. Als Hausherr hätte Kleopas eigentlich das Essen segnen müssen, aber dieser Mann nimmt das Brot, dankt Gott dafür und bricht es. Kleopas starrt ihn an, als er ihm das Brot reicht: Diese Geste kennt er nur von… Und diese Stimme… Und die Art, wie er ihnen die Schrift erklärt hatte! Das kann nicht sein! Endlich wirft die untergehende Sonne ihre Strahlen auf den Mann und das Gesicht unter der Kapuze erstrahlt. Kleopas erstarrt. „Jesus?“
Staub wirbelt ihnen ins Gesicht. Längst ist die Wärme des Tages vergangen und die stille, sternenklare Nacht umgibt sie. Über zwei Stunden sind sie schon auf dem Weg. Sie sind sofort aufgebrochen, als er fort war. Jesus! Jesus war bei ihnen gewesen! Sie haben so viele Fragen, aber alles wird übertönt von dieser unbändigen Freude in ihren in Brandt gesetzten Herzen. „Komm schon!“, ruft Kleopas seinem Freund zu. Kurz danach stehen sie vor dem Haus, wo sie mittags die engsten Freunde Jesu zurückgelassen hatten. Sie klopfen. Ungeduldig hämmert Kleopas kurz danach noch einmal an der Tür. Endlich werden sie hineingelassen und laufen in den Wohnraum. Alle sind sie noch wach und stehen durcheinanderredend beisammen. Einer ruft ihnen aufgeregt zu: „Der Herr ist tatsächlich auferstanden! Er ist Petrus erschienen!“11Lk 24,34, NLB Sie starren Petrus an, der mit Tränen in den Augen nicht anders kann als zu lachen. „Wir haben ihn auch gesehen!“ Und so erzählen Kleopas und sein Freund von ihrem Erlebnis mit Jesus – dem Auferstandenen! Weinend und lachend hören die Freunde Jesu einander zu, fragen Maria und die anderen Frauen nochmals nach dem, was am Morgen geschehen war. Nun fangen sie an zu verstehen, sie fangen zu glauben – zu vertrauen!
Doch plötzlich wird Petrus still, als würde er auf etwas horchen. Er richtet seinen Blick auf etwas außerhalb der Gruppe. Die anderen verstummen nach und nach, schauen ihn an und folgen dann seinem Blick. Manche halten erschrocken die Luft an, aber Petrus und Johannes, Maria und die anderen Frauen beginnen zu lächeln, als der Mann zu sprechen beginnt, dessen Stimme sie so vermisst hatten: „Schalom! Warum fürchtet ihr euch so? Warum zweifelt ihr, wer ich bin? Seht euch meine Hände an. Seht euch meine Füße an. Ihr könnt doch sehen, dass ich es wirklich bin. Berührt mich und vergewissert euch, dass ich kein Geist bin; denn ein Geist hat keinen Körper, und ich habe einen, wie ihr seht!«“12Lk 24,36-39, NLB Tatsächlich. Sie sehen ihn. Nicht wie sie ihn in ihren Erinnerungen während ihrer Trauer gesehen und gehört hatten, sondern leibhaftig. Petrus ist der Erste, der die Hand ausstreckt und seinen Herrn berührt. Die anderen tun es ihm gleich, sehen die Wunden in den Händen und Füßen, wo die römischen Soldaten die langen Nägel herausgezogen hatten, sehen die Wunde in der Seite, in die der Wächter ihn mit seiner Lanze gestochen hatte, um herauszufinden, ob er schon tot war. Jesus lebt!
Als er sich zu ihnen setzt, wie er es immer getan hat, und anfängt, ihnen das, was geschehen ist, auf seine ihm ganz eigene Weise zu erklären, denkt Maria an den Morgen zurück – an die leeren Straßen in der Morgendämmerung, die Soldaten und den Mann – jetzt weiß sie, dass es ein Bote Gottes gewesen ist; sie denkt zurück an Johannes und Petrus, die das Grab inspiziert haben, und den Moment, als Jesus sie bei ihrem Namen rief – wie damals, als er sie gerettet hatte. Als Jesus sie nun lehrt, fangen sie an zu verstehen, was er gemeint hat, als er sie in der Vergangenheit auf seinen Tod vorbereitete. Er ist gestorben, wie er gesagt hatte, durch die Hand des Rates und der Römer, aber er ist auch auferstanden, wie er gesagt hatte. Was bedeutet das? Maria lächelt. Es bedeutet, dass er wirklich der Messias ist, der Sohn Gottes, der eins ist mit dem allmächtigen Vater; es bedeutet, dass er der leidende Gottesknecht ist, den Jesaja angekündigt hat, der sein Leben hingab für sein Volk und dessen Sünde trug; es bedeutet, dass er an diesem Passah-Fest den Neuen Bund aufgerichtet hat – ein Bund, der nicht mehr zu lösen ist! Es bedeutet, dass der Psalm den Jesus am Kreuz gebetet und Maria am Morgen gesungen hat, nicht bloß Dichtung, sondern nun angebrochene Prophetie ist: „Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit verkündigen dem Volk, das geboren wird, dass er es vollbracht hat.“
Gott hat sein Wort gehalten. Der Weg zurück zu ihm ist nun frei. Sein Königreich ist angebrochen, mitten in der gefallenen Welt. Jesus ist auferstanden!
Mit dieser frohen Botschaft wünsche ich Dir einen gesegneten Ostersonntag! Mögest Du diese Freude des Evangeliums im Herzen tragen, wenn die neue Woche anbricht – eine Freude, die uns nicht mehr zu nehmen ist, denn Jesus lebt – und genauso werden wir mit ihm leben! Hallelujah!
Ich segne Dich im Namen unseres allmächtigen Gottes!
Wenn Du den Text anhören möchtest, dann findest Du hier eine Audioversion mit Bildern auf YouTube :-)
- 1Lk 8,2
- 2beispielsweise in Mt 27,32-49
- 3Mt 28,5-6, NLB
- 4Mt 28,1-7
- 5Joh 20,1-10
- 6Joh 20,15, NLB
- 7Joh 20,11-16
- 8Lk 24,13-35
- 9Lk 24,18-21, NLB
- 10Lk 24,25-26, NLB
- 11Lk 24,34, NLB
- 12Lk 24,36-39, NLB